Paul Nizon

29
Aug

Paul Nizon

Am 29 August 2008 kam der in Paris lebende Paul Nizon zu einer Lesung auf Gut Selikum.

Paul Nizon schreibt im Dezember 1990 in Paris in sein Journal: „ Ich habe, glaube ich, meine Bücher alle nach musikalischen Prinzipien verfasst, überhaupt habe ich beim Schreiben wohl immer musikalische Strukturen und Ausdrucksweisen im Ohr. Ich arbeite in aller Unschuld, das heißt ohne groß daran zu denken, mit Tonarten, Tempi, Tempiwechseln, mit Auftakten, Ober- und Untertönen, mit Stimmen, Haupt- und Nebenstimmen, Stimmen die sich verflechten, mit Begleitmusik und Orchestrierung, mit Phänomenen laut wie leise – piano bis fortissimo – und mit Pausen. Ich komponiere meine Texte nach dem Muster klassischer Kompositionen in drei oder vier Sätzen wie Sonaten oder Orchesterstücke. Doch gibt es auch Passagen, die dem klanglichen und rhythmischen Bildern des Jazz gehorchen, und ausserdem gibt es Anspielungen auf volkstümliche Weisen und warum nicht auf Gassenhauer. Ich arbeite nicht nur mit Musik, sondern auch mit Geräuschen, Geräuscheffekten; ich bilde mir ein, das kann bis zum Kreischen und bis zur Kakaphonie gehen. Ich schreibe eine rhythmisch skandierte tönende Prosa, das Rhythmische kann bis zur Atemlosigkeit akzellirieren, doch auch bis ins unhörbar leise werden und hörbar verstummen. Ich will damit betonen, dass ich meine Sprache beim Schreiben höre und oftmals voraushöre: Es kommt vor, dass ich ganze Passagen eines entstehenden Buches in seiner rhytmischen Kadenz und Klangmaske oder Klangfärbung im Gefühl und Gespür habe, noch ehe ich um den Inhalt und Sinn des kommenden Textes weiß. Das wäre in solchem Fall die Ankündigung eines literarischen Produkts als Klangkörper; der Klangkörper verrät mir Physiognomie und Charakter in seinem „blinden“ noch unsichtbaren, jedoch hörbaren Stadium. Die Sprache würde, so gesehen, bei mir aus einem musikalischen Kokon ausschlüpfen. Überhaupt kann ich mich von der musikalischen Strömung des Sprachflusses dahintragen lassen. Ich schreibe eine Ohrensprache, ich instrumentiere beim Schreiben, meine Sprache ist mein Instrument, ich lege die Finger auf die Tastatur meiner Schreibmaschine wie der Pianist die Finger auf die Tasten des Pianos legt, ich schließe die Augen und beginne zu spielen, das heißt, ich schlage einen Akkord an,

ich stelle mich auf einen Takt ein, ich beginne mich einzuspielen, und auf einmal schlüpft ein bestimmtes musikalisches Motiv oder Thema aus diesem Improvisieren aus und wird zur Melodie und nimmt mich mit. Stimmt das? So ist das, behaupte ich, wenn es natürlich nicht alles ist. Es ist jedoch ein wichtiger Aspekt meines Schreibens. Mir selber war das Musikalische meiner Prosa von Anfang an insofern bewusst, dass ich meine Bücher am liebsten als Tonkassetten distribuliert hätte, wenigstens dachte ich daran, dem gedruckten Buch eine Kassette beizulegen, ich stelle mir vor, meine Bücher würden sich am besten über die Hörwege ins Bewusstsein des Lesers Einlaß verschaffen, doch davon konnte in den sechziger Jahren natürlich noch keine Rede sein. Warum das musikalische Verfahren in meiner Arbeit eine so wichtige Rolle spielt? Ich denke, die musikalische Struktur meiner Prosa nicht einfach nur als Organisationsprinzip, sondern als konstituierendes Element und als Motor des Textes, hat bei mir mit dem schöpferischen Prozeß und mit einer ganz bestimmten künstlerischen Haltung zu tun. Ich gehe beim Schreiben nie von einer konstruierten Geschichte, nicht von handelnden Personen, die miteinander in Dialog treten, aus; nicht von Anekdoten und Handlungen, nicht von einer Bühnenillusion – ich gehe immer vom ICH aus. Ich könnte, überspitzt ausgedrückt, behaupten, in meinen Büchern sei die vordergründige Ebene der Realität, sie die Bühne die der Leser zuerst antrifft, diejenige einer One-Man-Show. Da sitzt einer beim Schreiben vor seiner Maschine und beginnt zu spielen. Das ist die Ausgangslage, das ist der Beginn. Der Beginn ist ohne Plan und ohne bestimmtes Wissen und Vorhaben. Ein Mensch, der anfängt zu sprechen oder zu murmeln und der sich im Grunde bekennen, dass heißt seiner Existenz und des Lebens vergewissern möchte. Er fängt irgendwo an und nimmt sich und den Leser auf die Reise mit. Die Reise führt durch die Gegenwart und Erinnerung und vielleicht auch ins Utopische, sie führt durch Unwetter und Ängste ebenso wie durch den Traum, sie staut sich an Reflexionen und ergießt sich in Emotionen, sie sucht nach dem Glück und durchquert die Einsamkeit, und dabei entsteht das Seismogramm einer heutigen Existenz und, wenn wir Glück haben, der Reichtum des Lebens, ja, und hoffentlich auch Schönheit und Glanz. Ich verwandle mich beim Schreiben in ein Instrument, ich schreibe, wenn es gut geht, instrumental, wenn nicht medial. Und dabei höre ich mir zu: Instrument und Instrumentalist in einer Person. Stimmt das? Und wenn ja, woher stammt diese Auffassung eines vagabundierenden und intonierenden Schreibens? Sie stammt aus dem Adoleszentenalter. Damals wurde ich für die Aussenwelt vorübergehend gewissermassen blind, weil ich von der eigenen Innerlichkeit völlig absorbiert war. Ich war ganz im Banne der inneren Seelenzustände, auf eine gefährliche Weise ein Gefangener meiner selbst; ich sass im Konzertsaal oder in der Oper meiner eigenen Aufführungen und lauschte dem Geschehen und hörte der Seelenmusik zu, auf geradezu krankhafte Weise

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