“Der große Versucher” von Henning Ritter

23
Jun

“Der große Versucher” von Henning Ritter

 

Liebe Freunde,

in diesen Tagen jährt sich der Todestag Henning Ritters, ohne den der Salon Kufsteiner Strasse niemals entstanden wäre, bereits zum dritten Mal.
Kurz vor seinem Tod ist noch der Artikel “Der große Versucher” von Henning Ritter im Philosophie Magazin erschienen.
Es lohnt sich den Artikel aufmerksam – auch als persönliche Botschaft von Henning Ritter – zu lesen.

Ihr Lothar Pues

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Der große Versucher

Über kaum einen Schriftsteller gibt es Äußerungen so vorbehaltloser Nähe. Goethe sprach von Montaignes “unschätzbar heiterer Wendung”, Nietzsche pries seine Redlichkeit und Heiterkeit, durch ihn sei “wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden”. Das allein schon müsste genügen, seine “Essais” als Lebenselixier zu nutzen und sich um des schieren Wohlbefindens willen in sie zu versenken. Jedem seiner Leser wendet Montaigne eine Facette seines Wesens zu, in der er sich ohne Mühe wiedererkennen kann. Sein Selbstsein auskosten, es fühlbar und schmeckbar machen – diese Absicht der “Essais”, die Montaigne das “Register der Versuche seines Lebens” nannte, stiftet über die Jahrhunderte hinweg einen Pakt mit dem Leser. Montaigne lesen heißt sich selbst beobachten.

Es wird leicht nachgesprochen, dass Montaignes “Essais” ein Selbstporträt seien. Tatsächlich enthalten sie eine Fülle von Geständnissen sogar intimer Züge ihres Autors. Er kündigt ja auch an, dass er in diesem Buch ausschließlich von sich selbst rede. Und doch gehört das Buch nicht in die Ahnenreihe der Selbstbekenntnisse und Selbstbeschreibungen, an denen die Literatur seit Rousseaus “Confessions” so reich ist. Montaigne unterscheidet sich von diesen moderneren Autoren. Er entkleidet sich nicht, um als besonders interessantes, originelles Exemplar seiner Spezies zu erscheinen. Intimes berichtet er, um am Gemeinsamen, das ihn mit seinem Leser verbindet, seine persönliche Nuance zu zeigen. Die Leiden und Unzuträglichkeiten, zum Beispiel durch seine Nierensteine, sind für den Leser nicht als Mitteilung über den Autor bedeutsam, sondern weil sie ihm Gelegenheit geben, ihn zu beobachten, wie er mit dem Schmerz umgeht, wie er gegen ihn aufbegehrt, sich ablenkt, sich fügt.

Dem Leser Montaignes wird nicht etwas vorgezeigt, sondern er erhält Gelegenheit, den Autor auf den abenteuerlichen Wegen seiner Gedanken zu folgen und zu sehen, wie er das eine Hindernis mühelos nimmt und einem anderen ausweicht, mit keiner anderen Absicht, als seine Art erkennbar zu machen. Er will, wie er sagt, nicht gelobt oder gepriesen, er will nur besser erkannt werden.

Die Freiheit eines Skeptikers

Montaigne legt Wert auf alle Freiheiten seines Denkens und Handelns, aber er preist sie nicht als Äußerungen einer ihm mitgegebenen wesenhaften Freiheit. Eher behandelt er sie wie ein Kapital, das man klug anzulegen hat und bei dem Sorge zu tragen ist, dass es flüssig bleibt. Von späterem, bürgerlichem Freiheitsverständnis unterscheidet ihn, dass ihm das Pathos der Verwirklichung von Freiheit fehlt. Während Freiheit für die Modernen zu einer unerschöpflichen Ressource wurde, die man nur anzuzapfen braucht, damit sie sich endlos regeneriere, ist sie für Montaigne ein knappes Gut, mit dem man nicht prunken soll. Und doch hat kein Wort in seinen “Essais” einen Akzent von vergleichbarer Emphase. In der Vertraulichkeit ihres Umgangs mit Montaigne stoßen seine Leser auf das, was er seine “Freiheitsgier” nennt. Wollte jemand ihm, der über Italien nie hinauskam, den Zutritt zu irgendeinem Winkel im fernen Indien verbieten, sagt er, so wäre er seines Lebens dadurch weniger froh. Wenn jemand ihn nur mit dem kleinen Finger bedrohen würde, würde er, ohne zu zögern, fortgehen, um anderswo zu leben, wo immer es wäre. Die radikalsten Ansichten des Autors der “Essais” treten unverhüllt auf, sind aber dennoch verborgen in der Beiläufigkeit, mit der sie vorgetragen werden.

Die Herkunft als Vorurteil

Die Nähe der “Essais” zu unserer Zeit täuscht. Wir möchten gerne mit Montaigne zweifeln, aber wir können es nicht. Denn unser moderner Zweifel ist immer ein methodischer. Selbst in der Entfernung von seinen cartesianischen Ursprüngen bleibt er der Arroganz des Wissenschaftsglaubens verhaftet. Montaignes Skepsis ist alles andere als ein Verfahren der Reduktion, sie ist vielmehr eine erschließende. Sie will auch nicht verändern. Sie kehrt zu dem, was der Zweifel verworfen oder in seinem Anspruch auf Zustimmung in die Schwebe versetzt hat, zurück, um sich ihm nach Maßgabe des Herkömmlichen zu fügen, nicht aber zu beugen. Das Herkommen bleibt für Montaigne “ein mächtiges Vorurteil”, bis der durch unsere täglichen Gewohnheiten verborgene “wahre Gesichtspunkt der Sachen” enträtselt ist. Hat der Mensch aber “diese Larve abgerissen und die Sache auf Wahrheit und Vernunft zurückgeführt, so wird er sein Urteil wie auf den Kopf gestellt und dennoch viel fester begründet finden”. Montaigne hält sich von der Zukunft so weit wie irgend möglich frei. Er empfindet es als Erleichterung, dass er der Zukunft gegenüber nur geringe Verpflichtungen hat. Er ordnet seine Dinge nur so weit, um sie einer ungewissen Zukunft ohne Selbstvorwurf überlassen zu können. Auch den Horizont seiner ehrgeizigen “Essais” zieht er bewusst eng. Er schreibe sein Buch für wenige Menschen und für wenige Jahre, versichert er. Denn hätte er sie zu größerer Dauer bestimmen wollen, hätte er sich “einer dauerhafteren Sprache anvertrauen müssen”, dem Lateinischen. Nach den Veränderungen der französischen Sprache, die er im Laufe seines Lebens erlebt hatte, mochte er nicht glauben, dass sie in ihrer vorliegenden Form in 50 Jahren noch verständlich sein würde.

Sprechen lernen

Während er sonst allem Vorbildlichen entgegenarbeitet, es an einem zum Äußersten getriebenen Bewusstsein der Verschiedenheit zerbrechen lässt, weil kein Ding, kein Mensch, keine Situation sich in anderen Dingen, Menschen, Situationen wiederholt, ist die Sprache für ihn als das Organ grenzenloser Nuancierung und als Instrument des Unterscheidens unangreifbar und jedem Zweifel entzogen: “Distinguo ist das erste und letzte Wort meiner Logik.” Die Sprache der antiken Autoren ist Vorbild, weil keine andere Sprache sich so viele Nuancen erschlossen hat. Sein Zutrauen zur Sprache bekennt Montaigne in wenigen Sätzen, in denen nicht von seiner sonstigen Biegsamkeit erscheint. Die Sprache ist der Fels, den kein Zweifel erschüttert. Wer dieses Sprachvertrauen untergräbt, greift das Kostbarste an: “Da wir uns miteinander nur durch das Wort zu verständigen vermögen, verrät, wer es fälscht, die menschliche Gemeinschaft. Es ist das einzige Mittel, durch das wir unsern Willen und unsere Gedanken austauschen, es ist der Mittler unserer Seelen; wenn wir es verlieren, so haben wir keinen Zusammenhang und keine Kenntnis mehr voneinander. Wenn es uns betrügt, so zerstört es allen unseren Umgang und zerreißt alle Bande unserer Gesellschaft.” Der Mensch ist auf weniges angewiesen. Wenn man ihn aller falschen Ansprüche und aller Drapierungen entkleidet hat, bleibt dieses eine: die Angewiesenheit auf das nicht betrügerische Wort.

- PHILOSOPHIE MAGAZIN

Foto: © picture alliance / Erwin Elsner

 

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